645615 Kultur und Geschichtlichkeit: Volkskunde an der Universität Innsbruck 1923 - 2017. Zur Wissensgeschichte einer komplexen Disziplin

Wintersemester 2017/2018 | Stand: 04.10.2017 LV auf Merkliste setzen
645615
Kultur und Geschichtlichkeit: Volkskunde an der Universität Innsbruck 1923 - 2017. Zur Wissensgeschichte einer komplexen Disziplin
SE 2
5
wöch.
jährlich
Deutsch

Ziel der Lehrveranstaltung ist die kritische Auseinandersetzung mit Zugängen zur Fach-, Wissenschafts- und Wissensgeschichte unserer Disziplin. Gefragt wird dabei nach Orten, Funktionen und Dynamiken volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Wissens an der Universität Innsbruck. Die Lehrveranstaltung macht vertraut mit den aktuellen Entwicklungen in der Wissensgeschichte: Unter wissenssoziologischen und -anthropologischen Fragestellungen und Perspektiven verändern sich die bisherigen einfachen Erzählungen über die Fachgeschichte. Es geht nun u. a. neu um Allianzen, Plausibilitäten, um den Zusammenhang zwischen „Politik“ und „Wissenschaft“.

In der Lehrveranstaltung werden qualitative, empirisch-kulturwissenschaftliche Zugänge angewendet und geprüft. Die Kompetenzen zur Präsentation eigener Erkenntnisse (aus dem vertiefenden Fokus) in einem Referat und in einer schriftlichen Arbeit werden erprobt und angewandt. Und nicht zuletzt soll in der Lehrveranstaltung das kritische Denken, jenseits von schwarz-weiss Setzungen und vorschnellen Urteilen, geübt und diskutiert werden.

Die Lehrveranstaltung befragt die fachliche Entwicklung der Disziplin Volkskunde/Europäische Ethnologie an der Universität Innsbruck. Seit der 1923 erfolgten Gründung des "Instituts für geschichtliche Siedelungs- und Heimatkunde der Alpenländer" durch Hermann Wopfner besteht das Fach an der Universität, weist aber inhaltliche und organisatorische Konjunkturen und thematische Setzungen auf, die mit politischen und kulturellen Funktionsleistungen der Disziplin verbunden sind. Während Wopfner und Adolf Helbok Volkskunde als "historische Wissenschaft" verstehen, dabei methodisch aber unterschiedlich vorgingen und sich ideologisch auch unterscheiden, finden sich auch epistemologische Kontinuitäten. Die von Helbok betriebene "Begabungsforschung" etwa zeigt Bezüge zur Ilg'schen Forschung zum "Auslanddeutschtum" und zu Tiroler Kolonisten in Südamerika. Diese seit 1970 mit dem Zusatz "Europäische Ethnologie" versehene Innsbrucker Volkskunde von Karl Ilg ist stark von den Kategorien "Tradition" und "Gemeinschaft" beeinflusst. Welche Rolle spielen diese in der mit Leander Petzoldt verknüpften Spezialisierung auf die Erzähl- und Sagenforschung?

Einführend werden wir den existierenden Forschungsstand zur Innsbrucker Fach- und Disziplinengeschichte erarbeiten. Diese Texte werden wir vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in der Wissensgeschichte und -anthropologie um neue Fragestellungen erweitern. Danach werden in Referaten vertiefende Themen fokussiert, die entweder Annäherungen an die Institutsgeschichte sind oder auf die Einordnung von Innsbrucker Perspektiven in die allgemeine Entwicklung der Wissenschaftsdisziplin zielen. So interessieren uns etwa Fragen wie die folgenden: Welche Möglichkeitsräume führten 1923 zur Gründung des Instituts? Wie ist die Karriere von Adolf Helbok zu verstehen? Welche Allianzen wirken wann und wie? Welche empirischen Methoden ("wandernde" Feldforschung, Atlasforschung, ...) sind dominierend? Was meint "Europäische Ethnologie" bei Karl Ilg um 1970, was "Ethnologia Europaea im Alpenraum" bei Leander Petzoldt? Wie ist der spezifische "Innsbrucker Weg" zu sehen? Handelt es sich vor dem Hintergrund anderer Institutsgeschichten um einen  „Normal-„ oder einen „Spezialfall“?

Dabei ist es nicht das Ziel der Lehrveranstaltung, nostalgisch-verklärend die "Ahnengalerie" des Faches abzuschreiten. Die Beschäftigung mit der Wissensgeschichte der Disziplin soll vielmehr dazu verhelfen, eigene und eigenständige Zugänge zur Geschichte der Innsbrucker Volkskunde/Europäische Ethnologie zu erarbeiten. Dies soll aus einer Position des ethnographischen Interesses, der ethnologischen Sympathie zum Forschungsfeld und eines feinen Gespürs für die Schwierigkeiten und Ambivalenzen, für die Widersprüche und Anforderungen eines „kleinen Faches“ in einer spezifischen Region, in einer spezifischen Universitätslandschaft geschehen.

Lehrveranstaltungsbegleitend: Vorbereitung der Lektüre, aktive Teilnahme an den Diskussionen, Präsentation einer thematischen Vertiefung (Referat).

Schriftliche Ausarbeitung eines ausgewählten empirischen Fallbeispiels.

- Bodner, Reinhard: Innrain zweiundfünfzig, elfter Stock. Eine Stoffsammlung zur Volkskunde in Innsbruck, in: Schweiger, Tobias, Wietschorke, Jens (Hg.), Standortbestimmungen. Beiträge zur Fachdebatte in der Europäischen Ethnologie, Wien 2008, S. 52-69
- Dow, James R., Bockhorn, Olaf: The Study of European Ethnology in Austria, Aldershot 2004
- Helbok, Adolf: Erinnerungen. Ein lebenslanges Ringen um volksnahe Geschichtsforschung, Innsbruck 1962
- Ilg, Karl: Die Geschichte der tirolischen Volkskunde von den Anfängen bis 1980, in: Tiroler Heimat 59 (1995), S. 177-244
- Ilg, Karl: Volk und Wissenschaft. Beiträge zur Volkskunde Westösterreichs, Innsbruck 1979 (Festschrift für Karl Ilg zum 65. Geburtstag)
- Ilg, Karl: Volkskunde an der Universität Innsbruck; ihre Entstehung und unsere Ziele, in: Krömer, Wolfram, Menghin, Osmund (Hg.), Die Geisteswissenschaften stellen sich vor, Innsbruck 1983, S. 135-144
- Johler, Reinhard: Innsbruck: Zur Entstehung von Volkskunde an der Sprachgrenze, in: Jacobeit, Wolfgang, Lixfeld, Hannjost, Bockhorn, Olaf (Hg.), Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien, Köln und Weimar 1994, S. 407-415
- Johler, Reinhard: Geschichte und Landeskunde: Innsbruck, in: Jacobeit, Wolfgang, Lixfeld, Hannjost, Bockhorn, Olaf (Hg.), Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien, Köln und Weimar 1994, S. 449-462
- Johler, Reinhard: "Volksgeschichte": Adolf Helboks Rückkehr nach Innsbruck, in: Jacobeit, Wolfgang, Lixfeld, Hannjost, Bockhorn, Olaf (Hg.), Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien, Köln und Weimar 1994, S. 541-547
- Johler, Reinhard: "Tradition und Gemeinschaft". Der Innsbrucker Weg, in: Jacobeit, Wolfgang, Lixfeld, Hannjost, Bockhorn, Olaf (Hg.), Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien, Köln und Weimar 1994, S. 589-601
- Meixner, Wolfgang: „…eine wahrhaft nationale Wissenschaft der Deutschen …“. Der Historiker und Volkskundler Adolf Helbok (1883-1968), in: Heider, Michael (Hg.), Politisch zuverlässig – rein arisch – deutscher Wissenschaft verpflichtet. Die Geisteswissenschaftliche Fakultät in Innsbruck 1938-1945, Bozen 1990, S. 126-133

- Meixner, Wolfgang, Siegl, Gerhard: "Erwanderte Heimat. Hermann Wopfner und die Tiroler Bergbauern", in: Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 1(2004), S. 228-239
- Nikitsch, Herbert: Volkskunde in Österreich nach 1945, in: Lozoviuk, Petr, Moser, Johannes (Hg.), Probleme und Perspektiven der volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Fachgeschichtsschreibung, Dresden 2005, S. 79-101
- Schneider, Ingo: Vorwort, in: ders. (Hg.), Europäische Ethnologie und Folklore im internationalen Kontext. Festschrift für Leander Petzoldt zum 65. Geburtstag, Frankfurt a. M., Berlin, Bern u. a. 1999, S. 11-13
- Tschofen, Bernhard: "Volks-Kunde? Wissenszirkulationen zwischen Kulturforschung und Selbstauslegung", in: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 7(2011), S. 37–52
- Wietschorke, Jens: Inter-/Trans-/Disziplinär? Zur Position der Volkskunde im Spannungsfeld der Wissenschaften 1945-1970, in: Moser, Johannes, Götz, Irene, Ege, Moritz (Hg.), Zur Situation der Volkskunde 1945-1970. Orientierungen einer Wissenschaft zur Zeit des Kalten Krieges, Münster, New York, München und Berlin 2015, S. 53-67
- Wopfner, Hermann: Bergbauernbuch. Von Arbeit und Leben des Tiroler Bergbauern, Innsbruck u. a. 1951-1960 (3 Bd.)

Parallel zur Lehrveranstaltung ist die Teilnahme an der Exkursion (LV 645616) zur Tagung "Orientieren & Positionieren, Anknüpfen & Weitermachen: Wissensgeschichte der Volkskunde/Kulturwissenschaft in Europa nach 1945" (Wien, 16.-18. November 2017) empfohlen. Dies ist allerdings nicht zwingend.

04.10.2017
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