645609 VU Kultur und Geschichtlichkeit: Rewriting "Atlas der deutschen Volkskunde"? Wissen, Region und Raum

Sommersemester 2025 | Stand: 07.01.2025 LV auf Merkliste setzen
645609
VU Kultur und Geschichtlichkeit: Rewriting "Atlas der deutschen Volkskunde"? Wissen, Region und Raum
VU 2
5
wöch.
jährlich
Deutsch

- Die Studierenden machen sich mit wissensanthropologischen Perspektiven auf den “Atlas der deutschen Volkskunde” als spezifisches Forschungsunternehmen der damaligen Volkskunde als “Vorläuferin” der heutigen Europäischen Ethnologie/Empirischen Kulturwissenschaft/Kulturanthropologie vertraut.

- Die Studierenden erproben in kooperativen Seminaren der beiden Institute in Klagenfurt/Celovec und Innsbruck jene neuen Möglichkeiten, die nicht nur im Atlas-Material selbst liegen, sondern sich auch aus neuen Fragestellungen an die (un-)bekannten Bestände ergeben.

- Die Studierenden vertiefen in eigenen empirischen Forschungen regionale Sondierungen zum ADV-Material und reflektieren so über die gegenwärtigen Bezüge damaliger Wissenspraktiken.

Den Alltag und das Leben der Vielen forschend zu erfragen, grafisch zu erfassen und dabei genau zu lokalisieren, gehört wohl zu den wirkmächtigsten Wünschen kulturwissenschaftlich Forschender. In der Vergangenheit hat diese Sehnsucht - auch wenn diese nie erfüllt wurde - jedenfalls vielfältige Ressourcen aktiviert, forschende Menschen mobilisiert und beschäftigt und dabei unterschiedlichste Wissensformate hervorgebracht, die bis heute vorhanden sind.

Ein wichtiges Beispiel dafür ist der „Atlas der deutschen Volkskunde“, kurz ADV, der als umfangreichstes geisteswissenschaftliches Langzeitprojekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft im 20. Jahrhundert angestoßen, finanziert und lange Zeit auch getragen wurde. Die Arbeiten daran dauerten von 1928 bis 1984. Mit Hilfe von Fragebögen sollten Erscheinungen einer als „volkstümlich“ eingestuften Kultur dokumentiert und in ihrer räumlichen Verbreitung in Karten dargestellt werden. Während der ADV sich nach 1945 durch Kooperationen mit verwandten europäischen Projekten internationalisierte, sollte er in seinen Anfängen ein „Inventarbuch der deutschen Volkskultur“ (Simon) sein. Er gilt als der erste volkskundliche „Nationalatlas“, der „Kulturgrenzen“ mit „Sprachgrenzen“ assoziierte. Dabei griff er auch auf „grenz- und auslandsdeutsche Gebiete“ aus – darunter ab 1929 Österreich, was als „Anschluß auf wissenschaftlichem Gebiet“ (Meier) gefeiert wurde. Auch wenn der ADV wissenschafts- und institutionengeschichtlich gut untersucht ist, wissen wir über seine „Übertragung“ auf die Republik Österreich ab 1929 erstaunlich wenig.

Über den ADV wurde „viel geschrieben und wohl noch mehr diskutiert“ (Groschwitz). Jüngere Diskussionsbeiträge bewegten sich in den Kontexten postkolonialer Debatten, einer praxeologischen Wissensanthropologie und von Fragen einer Digitalisierung für zukünftige Nutzungen. Auch in studentischen Debatten wurde unlängst am Beispiel des ADV gefordert, „neue Fragen an alte Materialien zu stellen“ (Larl/Rathmayer).

Daran knüpft die Lehrveranstaltung an, die als Kooperationsvorhaben der Europäischen Ethnologie an der Universität Innsbruck und der Empirischen Kulturwissenschaft/Kulturanthropologie an der Universität Klagenfurt/Celovec angeboten wird. Nach einer Einführungsphase, in der wir wichtige Ausschnitte der Forschungsliteratur kennenlernen, setzten die beiden Standorte verschiedene Akzente: Die Gruppe in Innsbruck erkundet die dort deponierten Bestände der damals in Innsbruck angesiedelten „Österreich-Zentralstelle“ des ADV. Es handelt sich um ein Erbe des völkischen Volkskundlers Adolf Helbok (1883–1968), der nach 1945 seine Wissensbestände „austrifizierte“. Die Gruppe in Klagenfurt/Celovec wiederum setzt sich mit der Geschichte der hier einst angesiedelten, für Kärnten/Koroška zuständigen ADV-„Landesstelle“ (einer von acht entsprechenden Stellen in Österreich) auseinander. Unter der Leitung Georg Grabers (1882–1957) wollte diese ihre Fragebögen auch jenseits der 1919 gezogenen Grenzen in Italien und im “Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS)” beantwortet wissen.

Wer aber waren die Ausfüllenden, die vor Ort mit dem Wissensformat „Fragebogen“ interagierten? Während der ADV überindividuelle Aspekte von „Kultur“ suchte und Auskünfte aus einzelnen Orten gern in kartografierbare „Kulturräume“ verwandelt hätte, drehen wir den Spieß gleichsam um: Ausgehend von der Makroebene der „Zentralstelle“ in Innsbruck und der Mesoebene der „Landesstelle“ in Klagenfurt/Celovec begeben wir uns auf exemplarische mikroskopische Spurensuche in den 1930er-Jahren am ADV beteiligten Gemeinden. Was passiert, wenn damalige Antworten also dorthin „zurückgetragen“ werden, wo sie “herkommen”? Inwiefern sind sie ein mehr oder weniger vergessenes Kapitel (vielleicht aber auch Kapital?) (über-)lokaler Geschichte? Diese Problemstellung führt die divergierenden Ausgangspunkte und Zugänge der beiden universitären Standorte am Ende wieder zusammen und bringt sie ins Gespräch miteinander. In Innsbruck geht der Blick in die Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino, nach Vorarlberg und Liechtenstein, in Klagenfurt/Celovec in den Alpen-Adria-Raum.

Konkrete Methoden: Lektüre von Forschungsliteratur zum ADV und zu wissensanthropologischen/-historischen Fragestellungen, Recherchen zu Kontexten, Netzwerken und Personen der Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde, Präsentation von Vertiefungsinputs, praktische Übungen mit unterschiedlichen Wissensformaten (Karteikarten, Korrespondenz, Buchbeständen, …), gegenwartsethnographische Erkundungen an verschiedenen damaligen Erhebungs-Orten, Verschriftlichung der Arbeitsschritte und Recherche-Ergebnisse in einem Portfolio.

Kombiniert mündlich (Diskussionen und Input) und schriftlich (Portfolio).

1. Lehrveranstaltungsbegleitend: Vorbereitung der Lektüre, aktive Teilnahme an den Diskussionen, mündliche Inputpräsentation zu einem Text.

2. Verschriftlichung von Arbeits- und Rechercheschritten und Abgabe als Portfolio (inkl. Vertiefung eines selbstgewählten Forschungsthemas)

Alle Studienleistungen müssen erbracht werden. Ein erfolgreiches Bestehen der Lehrveranstaltung (5 ECTS) bedingt ein mindestens genügendes Erbringen aller Studienleistungen.

Groschwitz, Helmut: Rewriting Atlas der deutschen Volkskunde postcolonial, in: Berliner Blätter 67 (2014), S. 29–40.

Johler, Reinhard: Die Karten der Ethnographen. Volkskunden, ethnographische Karten, volkskundliche Atlanten (1850–1980). In: ders. u. Josef Wolf (Hrsg.): Beschreiben und Vermessen. Raumwissen in der östlichen Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert. Berlin 2020 (= Geschichtswissenschaft, Bd. 16), S. 583–625.

Larl, Anna; Rathmayer, Manuela: Der Atlas der deutschen Volkskunde und Wir. Oder: Welche Fragen das Öffnen einer Archivschachtel ans Licht bringen kann. In: Maren Sacherer (Hrsg.): Überfällig – Überflüssig. Beiträge der Studierendentagung 2019. Wien 2021 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Wien, Bd. 50), S. 38–45. 

Schmoll, Friedemann: Die Vermessung der Kultur. Der „Atlas der deutschen Volkskunde“ und die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1928-1980, Stuttgart 2009.

Simon, Michael: Der Atlas der deutschen Volkskunde – Kapitel oder Kapital des Faches?, in: Schmitt, Christoph (Hg.), Volkskundliche Grossprojekte. Ihre Geschichte und Zukunft, Münster, New York, München und Berlin 2005, S. 51–62.

Meier, John: Der Atlas der deutschen Volkskunde (aus einem Gespräch). In: Neue Freie Presse, Nr. 23.211, 28. April 1929, S. 11.

Wietschorke, Jens: Volkskultur im Planquadrat. Eine wissensgeschichtliche Skizze zur Kartierung als sozialer Praxis. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 1 (2018), Themenheft „Mapping“, S. 45–55.

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645609-0 01.02.2025 00:00 - 21.02.2025 23:59
Kuhn K.