822103 SE Architekturphilosophie
Wintersemester 2025/2026 | Stand: 30.09.2025 | LV auf Merkliste setzenDie Studierenden erhalten vertiefte Einblicke in spezielle Sichtweisen und Arbeitstechniken der verschiedenen Themen innerhalb der Architektur und setzen individuelle Schwerpunkte.
(Er)Schöpfung
Atem und Atemnot, Schöpfung und Erschöpfung.
„I can’t breathe“ ist längst nicht mehr nur die Parole von Black Lives Matter, sondern zu einer Metapher unserer Gegenwart geworden – einer Zeit, in der ein planetarisches Erstickungsgefühl vorherrscht: in den von Hitzewellen und Luftverschmutzung heimgesuchten Städten; in den auf engstem Raum zusammengepferchten Menschen in Flüchtlingslagern oder auf Booten; auf eingeschlossenen und belagerten Territorien; in den Lithiumminen der südlichen Hemisphäre.
Atemnot zeigt sich auch im Inneren: im Burnout, im anhaltenden Gefühl der Müdigkeit und der Unfähigkeit zur Erholung. Mit anderen Worten: Alles und alle um uns herum sind erschöpft. Erschöpft sind die Menschen, die kollektive Psychosphäre und die natürlichen Ressourcen; erschöpft sind angesichts der dauernden Krisen und Katastrophen ebenso unsere Ideen wie unsere Menschlichkeit.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Was bedeutet es, in Zeiten der Erschöpfung Architektur zu betreiben? Oder anders: Was kann Architektur angesichts der Erschöpfung noch Sinnvolles leisten?
Dem Seminar liegt ein Verständnis von Architektur zugrunde, das weit über das bloße Errichten von Bauwerken hinausgeht. Architektur ist ein Akt der Imagination, der Organisation von Raum, Zeit und Material – und, metaphysisch gesprochen, ein Schöpfungsakt.
Wir befassen uns mit philosophischen Positionen, die das Spannungsfeld von Schöpfung und Erschöpfung ins Zentrum rücken. Franco Berardi entwickelt in Respirare das Bild der Atemnot als Signatur einer erschöpften Welt und fragt, wie Poesie neue Lebensrhythmen eröffnen kann. Gilles Deleuze beschreibt in Erschöpfung den Zustand, in dem alle Möglichkeiten durchgespielt sind – und gerade daraus radikal Neues entstehen kann. Simone Weil deutet in Schwerkraft und Gnade die Schöpfung als Akt des Rückzugs, der Raum für Freiheit und Erneuerung schafft. Hannah Arendt zeigt in Vita activa, dass kreatives Handeln die Welt erneuern kann, zugleich aber durch mechanisierte Produktion und Dauerbetrieb gefährdet ist. Walter Benjamin analysiert in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, wie technische Vervielfältigung schöpferische Aura erschöpfen und transformieren kann. Jane Bennett entwickelt in Vibrant Matter die Vorstellung einer lebendigen Materialität, die Gestaltung als Zusammenarbeit zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren denkt. Giorgio Agamben betont in Creation and Anarchy, dass Schöpfung nicht immer auf Verwirklichung zielen muss, sondern auch im Offenhalten von Möglichkeiten besteht. Wie kann Architektur auf eine erschöpfte Welt reagieren, ohne selbst erschöpfend zu wirken? Welche Denk- und Gestaltungsweisen eröffnen sich – im übertragenen Sinn – zwischen dem Atem der Schöpfung und der Atemnot der Gegenwart?
Lektüre, Diskussion
Lehrveranstaltungsprüfung gemäß § 6 Satzungsteil, Studienrechtliche Bestimmungen.
>> Seminararbeit
- Agamben, Giorgio. Creazione e anarchia: L’opera nell’età della religione capitalista. Vicenza: Neri Pozza Editore, 2017.
- Arendt, Hannah. The Human Condition. Chicago: University of Chicago Press, 1958.
- Benjamin, Walter. “Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.” Zeitschrift für Sozialforschung 5, no. 1 (1936).
- Berardi, Franco “Bifo.” Respirare: Caos e poesia. Macerata: Quodlibet, 2019.
- Bennett, Jane. Vibrant Matter: A Political Ecology of Things. Durham, NC, and London: Duke University Press, 2010.
- Deleuze, Gilles. L’épuisé. Paris: Les Éditions de Minuit, 1992.
- Weil, Simone. La Pesanteur et la grâce. Paris: Librairie Plon, 1947.
Diese LV wird von der Abteilung Bildungsförderung der Autonomen Provinz Bozen unterstützt.